Es gibt schon länger den Anspruch, dass Produktentwickler*innen und Designer*innen über den Tellerrand der eigenen Wünsche, Bedürfnisse und Ziele hinausschauen und Produkte realisieren, die am Menschen zentriert sind und in diesem Sinne einen Mehrwert bringen.
In diesem Zusammenhang geistern eine zunehmende Menge von Begriffen in der UX-Designwelt umher, die diese Haltung beschreiben: user-centred design, human-centred design, humanity-centered design, value-centred design oder auch society-centred design – nur um ein einige Begriffe zu nennen.
Bei allen Begriffen geht es im Endeffekt darum, eine Sensibilisierung zu schaffen, dass Design nicht nur eine*n “Benutzer*in” betrifft, sondern auch ein ganzes Ökosystem um diese Nutzer*in herum. Denn die Nutzer*in und die Produkte und Services, die wir gestalten, leben nicht in einem luftleeren Raum.
Inhaltsverzeichnis:
Die sozial-ökologische Verantwortung von Design
Trotz der vielen Begrifflichkeiten und den unterschiedlichen Auffassungen, was genau was beinhaltet, wurde vieles, was heute diskutiert wird, im Kern schon im Ursprung bereits mitgedacht:
In Don Normans Veröffentlichung “User Centered System Design: New Perspectives on Human-Computer Interaction” wurde bereits der soziale Kontext von Technologie mitgedacht (Norman & Draper, 1986).
Ein weiterer früher Vordenker, Viktor Papanek, beschrieb im Buch „Design for the real world. Human Ecology and Social Change“ bereits im ersten Satz, welche Verantwortung Designer*innen haben: “There are professions more harmful than industrial design, but only a few” (Papanek, 1984).
Wir möchten uns hier also nicht an Begrifflichkeiten und strikten Unterscheidungen von z.B. user-centred design vs human-centered design aufhängen. Wir gehen davon aus, dass es bei allen Begriffen darum geht, zu kommunizieren, dass die soziale bzw. gesellschaftliche Verantwortung von Design mit in den Designprozess aufzunehmen und zu bedenken ist, denn unsere Arbeit hat auch Auswirkungen auf andere Akteure wie z.B. andere Menschen, die keine direkten Benutzer*innen unseres Produktes oder Services sind, sowie die Gesellschaft als Ganzes und die Umwelt.
Warum die sozial-ökologische Perspektive auf Experience Design an Bedeutung zunimmt
In der aktuellen Praxis wird – aus unserer Erfahrung – der Fokus tatsächlich sehr oft nur auf Nutzerinnen und die Stakeholderinnen im engeren Sinne gelegt. Ziel ist es Produkte und Services zu entwickeln, welche die Probleme von Menschen lösen – hier wird primär nach den “Bedürfnissen” von Nutzer*innen (“user needs”) gefragt und ausgehend davon werden dann Lösungen entwickelt. Da das Unternehmen, welches die Produkte und Services entwickelt, Wachstum und somit einen finanziellen, messbaren Erfolg mit diesen Produkten und Services anstrebt, werden die Bedürfnisse dieser Stakeholder auch mitbedacht. Es fehlt allerdings zu oft am Einbezug weiterer räumlicher, sozialer oder kultureller Kontexte, welche von dem Produkt betroffen sein können. Diese Kontexte werden schlicht und ergreifend oft entweder unterschätzt oder vergessen.
The Times They Are A-Changin’
Aktuell befinden wir uns in einer Zeit, in der sich ein Wechsel in der Wahrnehmung vollzieht. Die Gründe dafür können vielfältig sein und sich gegenseitig sicherlich auch beeinflussen.
Die Auswirkungen von Ubicomp (Allgegenwärtigkeit von Computern, Unsichtbarkeit von Systemen) ist mittlerweile gesellschaftlich spürbar und gar Thema in populären TV-Serien wie z.B. Black Mirror. Als Folge wird die Implikation von Technologie in Bezug auf die Gesellschaft innerhalb der Tech Branche zunehmend diskutiert.
Soziale Bewegungen und Aktivisten wie Fridays for Future und die Letzte Generation thematisieren medienwirksam den Einfluss von Menschen, deren Lebensweise und damit auch deren Produkte auf den Planeten. Auch dies hat zur Folge, dass die Auswirkungen von Technologie thematisiert werden. Teilweise in einem Ausmaß, der sich negativ auf die messbaren Erfolge des Produkts auswirkt, z.B. der Energieverbrauch von Kyptowährungen oder NFTs.
Ein weiterer möglicher Aspekt ist der wachsende Markt der Plattformökonomie (s. Platform economy auf Wikipedia), deren on-demand und convenience Services für das Individuum unglaublich praktisch und angenehm sind, die allerdings sozial-ökologische negative Auswirkungen haben können, die uns alle betreffen. Beispiele u.a. sind Mobilitätsdienstleister für E-Scooter, gratis same-day-deliveries von großer online Shop-Portale und Lebensmittel-Lieferservices mit sehr kurzen Lieferzeiten.
Man muss diese Services nicht selbst nutzen, um direkt durch sie beeinflusst zu sein. Wer musste z.B. in einem urbanen Umfeld noch nie einem E-Scooter ausweichen, der mitten auf dem Gehweg abgestellt wurde? Services, welche unbeteiligte Personen beeinträchtigen und dadurch für Ärgernisse sorgen, haben beim Design mit ziemlicher Sicherheit räumliche, soziale und/oder kulturelle Kontexte vernachlässigt.
Die Plattformökonomie ist nur durch Technologie möglich– eine Technologie, die Bürger*innen teilweise in einem Ausmaß beeinträchtigt, dass diese gegen diese Services einen persönlichen Groll hegen.
Fazit
Technische Entwicklungen sowie diverse soziale Bewegungen haben die Gesellschaft zusehends für den Einfluss von Technologie auf die (soziale) Umwelt sensibilisiert. Designer*innen und Unternehmen werden darauf reagieren müssen. Design, bei dem auch die Gesellschaft mit in den Mittelpunkt der Entwicklung von Produkten und Services einbezogen wird, wird aktuell immer wichtiger. Es geht darum, sicherzustellen, dass Technologie die Bedürfnisse und Anforderungen der ganzen Gesellschaft und nicht nur einzelner Akteure erfüllt.
Ausblick
Wir werden bald zu diesem Thema einen Vorschlag für ein Modell vorstellen, welches in der Praxis ganz konkret dabei helfen kann, die sozial-ökologischen Auswirkungen von Produkten oder Services mit in den Designprozess zu integrieren.
Dieser Artikel gehört zu der Artikelreihe “Was kommt was bleibt 2023”. In dieser Reihe möchten wir einige Themen vorstellen, die uns für das dieses Jahr (und darüber hinaus) wichtig sind, in der Branche vermehrt diskutiert werden und welche für die Produkt- und Serviceentwicklung in Unternehmen – also Produktmanager*innen, Entwickler*innen und UX Designerinnen von Bedeutung sind. Den ersten Teil zu Inklusivem Design findet Ihr hier.
Quellen und Literaturtipps
Norman, D. A., & Draper, S. W. (1986). User Centered System Design: New Perspectives on Human-computer Interaction. Lawrence Erlbaum Associates.
Papanek, V. (1984). Design for the Real World. Human Ecology and Social Change. Thames and Hudson.
Rico Grimm: Warum NFTs eher nicht das Klima zerstören (Bitcoin aber schon) https://krautreporter.de/4200-warum-nfts-eher-nicht-das-klima-zerstoren-bitcoin-aber-schon
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